für Horst Samson und Brigitte Gyr

Die französische Dichterin sitzt im Zug nach Paris
Sie hat im Gepäck ihre zärtliche Sprache und schaut
Mit ihr aus dem Fenster: Türme stürzen nach hinten
Gedanken gleich, und während sie ihre Worte wiegt
Rast hinter dem Zug die Geschichte her diese andre

Geschichte als meine, ein Schatten mit weicheren
Konturen, dennoch, wie meiner, nicht abzuschütteln

Ich sitze derweil, ein Glas Bordeaux in der Hand
Und wünschte in ihrer Sprache zu träumen und hätte
Gelehnt an ein anderes Fenster, viel lieber ihre Geschichte
Im Nacken, den helleren Schatten, wenn ich in Wörtern
Wie Haus, Wald und Wiese ruhe und dem Ginkgobaum
Zuproste, der ein Symbol ist wie vieles da draußen, wo
Immer mehr zu Bildern erstarrt, selbst wenn ich ein Ohr
Ans Fenster lege und Zäune frühzeitig wachsen höre
Und über den Wortrand schaue, um Atemfahnen zu
Hissen gegen die Starre, die Angst heißt und Peur

Die französische Dichterin sitzt wie ich am Rande
Fensterloser Wörter wie Oradour-sur-Glane und Bataclan

Wir sitzen in den verdunkelten Räumen der Sprache, damit wir
Das Licht der entferntesten Sterne ins Wort fangen können

Ein Pferd verändert die Stimmung im kleinsten Zimmer
Es erinnert an all die langmähnigen Mädchen, die sich
Vertrauensvoll auf seinen Rücken schmiegten und
Mit ihm in den Wäldern verschwanden um später als
Frau in die Stadt zurückzukehren, man weiß nicht mehr
Ob man nach innen auf dieses Bild schaut oder durchs
Fenster nach draußen, wo das Pferd in einer Parklücke
Steht und darauf zu warten scheint, dass sein Leben
Sich nur als Bild von etwas Vergangenem herausstellt
Du wirst still und fragst dich, wie es kommt, dass du
Auf so viele verschiedene Arten hinaussehen kannst
Bei einer verblassen allmählich die Farben als wäre
Niemand mehr da, der ein Pferd sehen kann, nur jener
Mann mit seinem Pudel, der sprechend vorübergeht
Du bist meine Vorstellung, sagt er und deutet auf dich
Während du noch versuchst, Farbe in die Welt zu schütten

Tagsüber sitzt die Chronistin des Meeres am Strand sie
Notiert die Sprache der Wellen die keine Vokale aufweist

Bisweilen glaubt sie einzelne Wörter zu erkennen wie
Geflüsterte Klagelaute abgestorbener Meeresbewohner

Oder das Schweigen Gestrandeter hallt in ihren Ohren
Während sie einen Stein in der Hand wiegt und darin

Wiedererkennt was sie im Leben verlor einige Geliebte den
Himmel oder die Hoffnung auf ein gutes Ende von allem

Der Wind schwingt weit draußen die Peitsche er jagt mit
Den Wellen den Steinen den Haaren an Land bisweilen

Studiert die Chronistin auch Zahlen sie liest das Meer
Bestehe aus etwa 2,68 mal 10 hoch 25 Wassertropfen

Dann spinnt sie den Faden von Atem und Gravitation
Dann zieht die Sonne den Tag hinter sich her ins Meer

Später im Bett zählt die Chronistin nur das was nicht endet sie
Lernt dass Zahlen und Wörter letztlich den Sternen gehören

 ©UTM

 

URSULA TEICHER-MAIER

FLUCHTPUNKT I

                                              

                                               Wie viele Geschichten entstehen im Gehen

                                               Manche davon werden mit dem Leben bezahlt

                                                         

Gestern standen sie vor unserem Haus

Und schauten uns in die Fenster herein

Sie hatten ziemlich dunkle Gesichter als

Fiele ein Schatten unserer Gedanken hinein

Und so hüteten wir uns davor zu denken und

Flüsterten sinnlose Worte wie Beschwörungs-

Formeln vor uns hin und löschten das Licht weil

Wir immer noch keine Gardinen besaßen wir gingen

An unsere Arbeit und schauten nur manchmal hinaus

Aber am Abend standen sie noch immer reglos da

Wir hielten ihnen altes Linnen hin und Brot später

Delikatessen doch sie schüttelten nur den Kopf

Sie wollten mehr von uns viel mehr sie wollten

Mit uns unsere Luft atmen und in unseren

Träumen wohnen sie wollten in unserer Haut

Durch die Städte gehen und unsere Gedanken

In ihren Kindern und Kindeskindern wiedererkennen

 

FLUCHTPUNKT II

                                                         

 

                                                          Als sie gestern durch die Bilder zogen irgendwo

                                                          An der Grenze zu Serbien oder Mazedonien blieb

                                                          Eines jener Kuscheltiere wie zu schwere Luft  

                                                          Am Boden liegen und wir wussten wieder einer

                                                          Weniger und keiner von uns sprach darüber jeder

                                                          Zog sich still in sein Zimmer zurück zu jenen Worten

                                                          Die für keinen bestimmt sind und die keiner kennt

                                                          Außer vielleicht einem toten Kind oder den Bildern

                                                          Die sich nicht schämen so etwas zu zeigen

 

Die Welt ist sternenlos geworden sagt ein Flüchtling in jenem Film der

Im Nonstopkino ihres Kopfes abläuft weshalb sie das Haus verlässt

Zum Fluss geht und aufs Wasser starrt wobei ihr nichts als Fisches

Nachtgesang einfällt und sie plötzlich über die fehlenden Worte darin

Weinen muss und über alles was fehlt sie weint Wasser zu Wasser

Und geht nach Hause und auf dem Weg weint sie drei Taschentücher

Nass sie weint ihr Kleid nass und die Unterwäsche später rinnen die

Tränen an ihr hinunter in die Teppiche die sich allmählich in etwas

Pflanzliches verwandeln und dann an der Zimmerdecke schwimmen

Während sie weinend auf der Couch sitzt und froh ist etwas zu können

Etwas das diesen Tag verändert wie Musik oder Lachen und das Wasser

Fließt aus ihrem Haus in den Garten und die Straße entlang fließt in

Die trockene Stadt wo sich zuerst die Kinder damit bespritzen später

Die Mütter dann einzelne Geschäftsleute und Schaufensterflaneure

Patschen und planschen lachend in ihren Tränen herum und sie weiß

Dass sie nicht aufhören darf zu weinen weil sonst ihre Gedanken wie

Blitze ins Nasse fahren und die Welt sternenlos in ihren Kopf zurückfällt

 

FLUCHTPUNKT III

                                                         

Frau mit dem Kopf im Sand und einem Kragen aus Meer*

Sie will diese Bilder von ertrinkenden Afrikanern nicht mehr sehen

Sie schaltet den Fernseher immer kurz vor den Nachrichten aus

Eigentlich wünscht sie sich längst ein Leben in einer anderen Zeit

Auch wenn es Leuten wie ihr angeblich niemals besser ging als jetzt

Und genau hier wo ein Hund an zu viel Zärtlichkeit eingehen kann

Und kein Nachbar das Wort Hunger noch im Körper spürt möchte sie

In diesem haltlosen Sand etwas Verlässliches finden wie die Knochen

Eines Dinosauriers und auf ihnen zurückreiten zB ins Mesozoikum

Oder wenigstens ein Stück in die eigene Geschichte um nicht länger

So mit leeren Händen hier zu stehen wo diese Afrikaner nachts

Dunkel durch ihren Kopf ziehen ohne eine helle Spur zu hinterlassen                                                  

 

FLUCHTPUNKT IV

 

Gedicht ohne Flüchtling

Ein Kameraschwenk und schon entstehen im Hirn andere Bilder

In Japan feiert der Tenno den Frühling im Garten Europas Politiker

Küssen sich wieder die Wangen im Scheinwerferlicht und einer

Der letzten Ostseefischer pult Heringe aus einem Fangnetz heraus

Das rührt uns weil es die Zeit und den Raum im Kopf zueinander

Rückt bis ein Gedicht seine Bilder verlässt und ins Wort will

Draußen weit draußen wird weiterhin an den Zäunen gerüttelt

Aber wir leben im Jahr zweitausendsiebzehn und haben uns daran

Gewöhnt dass z. B. Pinguine und Eisbären als Bildschirmschoner auf

Tauchen und wie das Permaeis sang- und klanglos wieder verschwinden

Wir nehmen das Gedicht

Wir lassen es uns durch den Kopf gehen

Wir stellen das Gedicht ins Netz

Dabei rutscht garantiert kein einziger Flüchtling durch die Maschen

 

 

FLUCHTPUNKT V

 

Und wie wir endlich zum Mond kamen, war's ein Stück faul Holz

Bisweilen ist es gut ein wenig Abstand zu nehmen

Von all diesen Geschichten zwischen Schreibtisch und Bett

Und einmal so durchzuatmen wie der Astronaut Chris Hadfield.

Als er Space Oddity  in einer Raumstation sang

In jenem schwerelosen Zustand der uns beruhigen soll

Und glauben lassen dass die Erde immer noch kein umgestürzter Hafen sei

Und dass sich noch alles um alles drehe sagst du

Und ich schaue dir zu wie du das Atmen vor dem Spiegel übst

Um mir zu beweisen dass wir beide

Noch am Leben sind und sich etwas wie Zärtlichkeit einstellt

Wenn die Luft in den Lungen ausreicht um

Sich in den luftleeren Raum fallen zu lassen und dennoch zu singen

 

*Ich beziehe mich hier auf Olaf Veltes "Kragen aus Erde"

©UTM

P1130685 Arbeitskopie 2

Mit roten Fußnägeln wecke man
Den Wolf sagen die Leute in meinem Ort und
Zur Sicherheit halten sie einen im Hasenstall
Einen kleinen vorerst doch das wolle nichts heißen
Denn man verstehe sich aufs Füttern
Flüstern sie wenn sie die Klappe zufallen lassen hinter sich
Und dem Fernsehabend an dem sich die Welt
Präsentiert wie sie ist wild und zahm zugleich
Und irgendwo da draußen lernen derweil
Ein paar Wölfe mit roten Nägeln
Ihr Hasenfleisch possierlich zu zausen
Sie benötigen dazu nichts und den eisernen Willen
Sich selbst im Auge eines Hasen zu betrachten